RECHTSANWALT DR. OETTL

 

Manchmal ist es auch umgekehrt und es sind die Erinnerungen, die zuerst da sind und die nach Photographien in alten Alben und Schuhschachteln suchen lassen. Diese Erinnerungen machen sich zwar zunächst an dem Photo fest, sie sind aber nicht statisch und eindeutig, sie changieren vielmehr, verschieben sich, bekommen unterschiedliche Ausprägungen, machen sich selbständig. Sie finden sich in einem Prozeß, der die Vergangenheit aus der Gegenwart erklärt, das Gegenwärtige mit Vergangenem überblendet. Sie sind beides: gemalte Erinnerungen und gemalter, dingfest gemachter Prozeß des Sich-Erinnerns in einem. Sie sind Signatur privater Geschichte.

Erreicht wird dieser Eindruck des bildhaften Erzählens durch eine Palimpsest-Technik. Palimpsest kommt aus dem Griechischen und bedeutet: "wieder abgekratzt". Es meint eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift beseitigt und durch eine neue ersetzt wird. Bei Papyrus geschah dies früher durch Abwischen und bei Pergament durch Radieren mit Bimsstein.

In diesem Sinne ist das jeweils auf den Zeichenkarton oder das Zeichenpapier kopierte Photo-Portrait in den "Briefen" Jutta Nases die erste von mehreren Schichten. Diese wird überschrieben mit Farbflächen und Zeichen. Die Photographie scheint nur noch durch, sie verschwindet nicht, sondern bekommt durch den neuen Kontext eine andere Bedeutung. Das Erinnerte ist damit aber nicht zufrieden. Die neue Schicht wird wieder wegnommen, aber nicht ganz und nicht überall.

Ein Paradoxon entsteht: durch ein Hinzufügen werden Schichten freigelegt. Durch Schriftzüge, die für sich gesehen nicht lesbar sind, werden Erinnerungen benannt. Es ist die Technik der sich überlagernden Flächen, die "angekratzt" und dann neu übermalt und überschrieben werden mit der wohlbedachten Absicht, Neues, und nicht Altes, Bekanntes durchschimmern zu lassen. Es wird das Prozeßhafte gezeigt, gezeigt auch, daß Vergangenes nicht abgeschlossen, sondern lebendig ist und sich beständig ändert.

 

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